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Jahreslosung 2021

„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist“

oder die Furcht vor einer gottlosen Gesellschaft

 

Ein bemerkenswert ehrliches und in gewisser Weise irritierendes Interview eines – so sagt er von sich selbst – atheistischen Spitzenpolitikers: „Ich glaube zwar nicht an Gott, aber ich möchte auch keine gottlose Gesellschaft", sagte Gregor Gysi dem Berliner Tagesspiegel, „ich fürchte sie sogar.“

 

Warum er sich (zurecht) vor einer gottlosen Gesellschaft fürchtet? Die Jahreslosung für 2021 gibt eine Antwort: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“ (Lukas 6,36)

 

Barmherzigkeit soll den Unterschied machen, eine gottlose Gesellschaft wäre eine unbarmherzige Gesellschaft? Unsere Alltagserfahrung mag widersprechen. In dieser Welt gibt es viel Liebe, Fürsorge und Engagement für andere. Warum also dann Barmherzigkeit?

 

Gott ist vom Elend des Menschen betroffen

 

Im Wortsinn bedeutet Barmherzigkeit nichts anders als, „sich in herzliches Mitgefühl zu kleiden“ und hat ihren Anfang nicht bei den Menschen. Vor allem anderen steht Gottes Hingabe zu den Sünderinnen und Sündern.

 

Karl Barth, einer der großen Theologen des vergangenen Jahrhunderts sagte mal: „Der persönliche Gott hat ein Herz.“ Alle Barmherzigkeit beginnt deshalb beim Herzen Gottes. Dort ist der Anfang. Bei seiner unfassbaren, unbegreiflichen und geschenkten Liebe zu den Menschen.

 

Denn das menschliche Elend, das sich für Gott immer zuerst auf die Beziehung des Menschen zu ihm bezieht, geht ihm durch und durch. Er ist vom Elend des Menschen betroffen und tut alles, um dieses zu ändern.

 

Jesus Christus ist der für uns Menschen gestorbene und auferstandene Sohn Gottes. Das Kreuz auf dem Hügel Golgatha ist das sichtbarste Zeichen von Barmherzigkeit.

 

Warmherzig oder armherzig?

 

Wenn ich das Wort Barmherzigkeit länger nachklingen lasse, es immer wieder ausspreche, dann ertappe ich mich dabei, dass „warmherzig“ doch viel schöner klingen würde. Ein warmes Herz haben.

 

Doch das Wort hat zunächst nichts mit Wärme zu tun, obwohl sie grundlegend für Barmherzigkeit ist. „Barmherzig“ ist die Übersetzung des lateinischen Begriffs „misericordias“: ein Herz (cordis) für die Armen (miser). Später ist noch das „B“ zum Wort hinzugekommen.

 

„Armherzigkeit“ meint: vom Elend der anderen betroffen zu sein. Es geht mir zu Herzen. Wenn man nun Armut nicht allein als materielle Armut versteht – auch wenn von dieser, beschämenderweise, noch immer zu viele Menschen in Deutschland und weltweit betroffen sind – sondern sie weiterdenkt, kann man schnell erahnen, wovor Gregor Gysi Angst hat: Es ist die Angst vor einer Welt ohne soziale Wärme, ohne Fürsorge, voller Unversöhnlichkeit, eben ohne Barmherzigkeit.

 

Barmherzigkeit weitergeben als Nachahmung Gottes

 

Evangelische Christinnen und Christen erwischt man schnell dabei, diesen Satz Jesu aus der Bergpredigt bzw. „Feldrede“, wie die Bergpredigt im Lukasevangelium heißt, als einen Imperativ zu lesen: Du musst barmherzig sein.

 

In der katholischen Kirche gibt es seit vielen Jahrhunderten gar verschiedene Werke der Barmherzigkeit. Dabei wird unterschieden zwischen geistlichen und leiblichen Werken, also solchen in Herz und Kopf und denen der Tat.

 

Jesus lädt uns ein, ihn nachzuahmen. Nachahmung ist jedoch gerade nicht gleichzusetzen mit einem Appell. Es geht nicht um ein „mach“ und „tu“, damit die Welt besser wird. Nachahmung bedeutet hier, etwas weiterzugeben, was Gott mir gegeben hat.

 

Barmherzigkeit ist kein Besitz des Menschen. Nachahmung Gottes heißt: „Wie Gott mir, so ich dir.“ Wir können barmherzig sein mit unserem Nächsten, weil wir im Kraftfeld der Barmherzigkeit Gottes leben. Wie wunderbar das wirken kann, zeigt das großartige Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lukas 10).

 

Zwei Möglichkeiten, barmherzig zu handeln

 

In den unmittelbar nach der Jahreslosung folgenden Versen (Lukas 6,37ff.) wird Jesus konkreter. Da geht es um die geistliche und die leibliche Dimension von Barmherzigkeit, ums Verzeihen bzw. darum, nicht zu richten, und ums Geben.

 

Wer vergibt, in Beziehungen einen Neuanfang ermöglicht, und wer nicht nur an sich denkt, sondern teilt, handelt barmherzig. Aus christlicher Perspektive ist es letztlich ein Weitergeben dessen, was ich selbst empfangen habe. Ich teile, was mir geschenkt wurde, mit denjenigen, die weniger haben und vergebe gern, rechne nicht auf.

 

Kurz stockt der Atem beim Nachdenken. Denn das sind wahrlich keine leichten Übungen. Beides geht zu Herzen. Aber wenn davon unser Leben geprägt wäre und das auf unsere Mitmenschen wirken würde, wie großartig wäre das denn?

 

Ein fundamentaler Verlust

 

Gregor Gysis Aussage ist besonders. Oder vielleicht ist sie gar nicht so besonders, aber sie weist auf das Besondere hin, das man nicht machen, mit dem man sich nur beschenken lassen kann.

 

Er hat Sorge vor einer gottlosen Gesellschaft, weil eben jene Barmherzigkeit, die bei Gott ihren Ausgang nimmt, weit über eine gute Tat oder ein anständiges Leben oder Hilfsbereitschaft hinausgeht.

 

Papst Franziskus bezeichnet die Barmherzigkeit als die wahre Kraft, welche den Menschen, welche die Welt retten kann (2013 im Apostolischen Schreiben „Evangelium Gaudii“). Unbarmherzig würden wir Christinnen und Christen handeln, wenn wir diejenigen, die nicht glauben (können) mit sich allein lassen. Davor kann man zurecht Angst haben.

 

Mutig raus aus der Komfortzone

 

Jesu Worte halten uns Christinnen und Christen, uns im CVJM den Spiegel vor. Er fragt uns: Wie reden wir übereinander? Wie schnell verurteilen wir oder sprechen schlecht übereinander vor Dritten? Wie häufig denken wir zuerst an uns?

 

Wir, die wir in Gottes Kraftfeld der Barmherzigkeit leben, sind herausgefordert, Gottes Nachahmung zuerst untereinander zu leben. Würden wir das schaffen, wäre die Kraft der Barmherzigkeit bei allen anderen Menschen, mitten in dieser Welt viel stärker sichtbar. Weil wir leider so unbarmherzig miteinander sind, üben sich andere in Werken der Barmherzigkeit, versuchen soziale Not zu lindern. Sie geben ihr Bestes. Und wir?

 

Deshalb: mit neuem Mut, herausgefordert und inspiriert, raus aus der persönlichen Komfortzone der Unbarmherzigkeit. Mit vollem Herzen ins neue Jahr. Mit warmen Herzen. Mit dem Gott der Barmherzigkeit an unserer Seite. Barmherzigkeit ist der Herzschlag christlichen Handelns – gerade 2021.

 

Hansjörg Kopp,

Generalsekretär CVJM Deutschland